20 Jahre nach dem NSU-Nagelbombenattentat in der Keupstraße bewegt sich etwas im Verantwortungsbewusstsein des Staates. Eine Chance, die nicht verspielt werden darf.
Als vor 20 Jahren eine Nagelbombe in der Kölner Keupstraße detonierte und das Leben unzähliger Menschen für immer veränderte, war das vermeintliche Motiv schnell gefunden: Migranten sollten es gewesen sein. Rechtsextremismus kam nicht in Frage. Ein unverzeihlicher Fehler, der sich vielfach wiederholte und bis heute am Aufklärungswillen des Staates zweifeln lässt.
Der NSU-Terror und das Staatsversagen bei dessen Verfolgung zählen zweifelsohne zu den dunkelsten Kapiteln unserer Nachkriegsgeschichte. Was bleibt, ist der Vorwurf, dass Vertuschen und Aktenvernichten den Behörden wichtiger war als die Aufklärung von zehn Morden, 43 Mordversuchen, drei Sprengstoffattentaten und 15 Raubüberfällen.
Bis heute sind die Erinnerung an die Opfer ebenso wie die Lehren aus dem NSU-Terror in der Bundesrepublik nicht angemessen verankert. Betroffene müssen auch im 13. Jahr nach der Selbstenttarnung des sogenannten „Kerntrios“ für lückenlose Aufklärung und Entschädigung kämpfen. Ersteres soll sich nun mit einem Dokumentationszentrum ändern. Eine historische Chance der Verantwortungsübernahme.
Die Betroffenen gehören in den Mittelpunkt
Bundesweit gibt es bereits einige Vorhaben, die auf ein würdevolles Erinnern hinarbeiten – oft initiiert von Angehörigen und Engagierten. Erste Ansätze eines Dokumentationszentrums gibt es in Chemnitz. Also in der Stadt, in der das „Kerntrio“ jahrelang untertauchen konnte. Unterstützt von rechtsextremen Strukturen, die bis heute existieren. Bei manchen Hinterbliebenen und Expert*innen trifft der Standort Chemnitz daher nicht auf Gegenliebe.
Aufarbeitung kann nur gelingen, wenn Betroffene gehört und ihre Anliegen ernst genommen werden. Eine enge Einbindung der Hinterblieben ist daher elementar für das Gelingen einer Erinnerungs- und Dokumentationsstätte. Die Positionen der vom NSU-Terror Betroffenen müssen bei der Standortwahl und der weiteren Ausgestaltung in den Mittelpunkt. Das kann – wie beispielsweise von der Bundeszentrale für politische Bildung vorgeschlagen – durch eine kluge Erinnerungsarchitektur gelingen, bei der kein einzelner Ort im Mittelpunkt steht, sondern eine Satellitenlösung das Gedenken an verschiedenen Standorten ermöglicht. So ließen sich die Perspektiven der Betroffenen und der seit Jahrzehnten engagierten Zivilgesellschaft in Sachsen vereinen.
Aufklärung forcieren, Akten sichern und zusammenführen
Wirkliche staatliche Verantwortungsübernahme muss jegliche Vertuschung beenden. Die Freigabe der staatlichen Akten auf Bundes- und Landesebene ist längst überfällig. Verlorenes Vertrauen kann so zurückgewonnen werden und zur weiteren Aufarbeitung beitragen. Mögliche Schritte zu einer zentralen Archivierung der NSU-Akten sollten im Zuge eines NSU-Dokumentationszentrums genaustens geprüft werden. Besonders brisant wird die notwendige Sicherung der Aktenbestände vor dem Hintergrund der kommenden Landtagswahlen. In Sachsen, Thüringen und Brandenburg gab es wichtige NSU-Untersuchungsausschüsse. Die Aktenlage bei den dortigen Sicherheitsbehörden ist zweifelsohne relevant. Mit Blick auf die anstehenden Landtagswahlen muss verhindert werden, dass Parteien, die mit der rechtsextremen Szene eng verwoben sind, in Zukunft Einfluss auf die Akten nehmen können.
Die Bundesregierung ist am Zug
Der derzeitige Stand bei der Umsetzung des NSU-Dokumentationszentrums beruht vor allem auf dem parlamentarischen Willen. Durch die letzten Haushaltsverhandlungen konnte das Projekt erfolgreich auf den Weg gebracht werden. Angesichts der Tatsache, dass die Institutionen des Bundes im Staatsversagen zum NSU-Komplex eine maßgebliche Rolle gespielt haben, sollte es intrinsische Motivation der Bundesregierung sein, das Vorhaben fortan proaktiv zu forcieren. Eine auf Dauer angelegte und politisch wie finanziell abgesicherte Trägerstruktur wird entscheidend für das Gelingen eines NSU-Dokumentationszentrums sein. Es liegt in der Verantwortung von Innenministerin Faeser noch in dieser Wahlperiode das Stiftungsgesetz für eine Bundesstiftung zur NSU-Aufarbeitung zu erarbeiten und an Bundesfinanzminister Lindner nicht im Weg zu stehen. Sollte das gelingen, ist das eine historische Chance.
Dieser Gastbeitrag erschien am 15. Juni 2024 in der Frankfurter Rundschau: